"Negativer Verstärker" ist ein Begriff, den wir häufig benutzen, und der doch für manche hier noch ein wenig abstrakt erscheint. Mir ist schon ein paarmal aufgefallen, dass manche die Aufgaben an sich schon als negativen Verstärker wahrnehmen. Viele Aufgaben = viele negative Verstärker. Nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig.
Versuchen wir daher, die negativen Verstärker einmal als Gewichte zu betrachten.
Stell dir vor, du hast einen Sack auf dem Rücken, und in dem schleppst du Druck, Angst und Scham mit dir herum. Jeden Tag, den du etwas nicht erledigst, kommt ein kleines Gewicht namens Druck, Angst oder Scham (oder alles davon gleichzeitig) in den Sack. Du wolltest dein Bett beziehen, und hast es nicht gemacht. Am Abend empfindest du eine Last, ein Ärgernis, Frustration, weil du es nicht getan hast, obwohl es hätte getan werden müssen. Ein kleines Gewicht ist in deinem Sack aufgetaucht, und das geht da nicht weg. Am nächsten Tag, wenn es unerledigt geblieben ist, ist ein weiteres Gewicht dazugekommen, und noch eins und noch eins und noch eins. Dein Sack wird immer voller und schwerer, nur durch diese eine Sache. Am Anfang hast du es kaum bemerkt, doch mittlerweile wird es schon ziemlich unangenehm, den ganzen Tag damit herumzulaufen. Seit drei Monaten schiebst du vor dir her, einen Termin zu vereinbaren. Seit drei Monaten kommt jeden Tag ein bisschen Druck, Angst oder Scham wegen des Termins hinzu, und das nur von dieser einen Sache. DAS ist mit negativen Verstärkern gemeint. Negative Verstärker schwellen an - und zwar ganz von alleine! Und du hast nicht bloß diese eine Sache, sondern hunderte, vielleicht tausende von Sachen, die schon lange getan werden müssten.
Weniger ins Gewicht fallen hingegen Dinge, die keine Zeit hatten, sich lange aufzustauen. Du putzt jeden Tag deine Toilette? Dann empfindest du es als nicht so große Erleichterung, deine Toilette zu putzen, wie du es empfinden würdest, wenn du sie nach drei Wochen endlich mal wieder putzt. Darum bringen Alltagslasten nicht so viel Verbesserung deines Wohlbefindens. Die freigesetzte Erleichterung (wörtlich - der Sack voller Druck, Angst und Scham leert sich und wird dadurch leichter) hält sich bei kurz oder gar nicht aufgeschobenen Dingen in Grenzen. Logisch. Es kam ja gar nicht erst zu einer Belastung, die du mit dir hättest herumschleppen können.
Was passiert, wenn man die ganze Zeit mit einem schweren Sack auf dem Rücken herumläuft, und sich nur um seine Alltagslasten kümmert? Und wenn der Sack jeden Tag ein kleines bisschen schwerer wird? Er behindert einen, er stört, er belastet, er hält auf. Er macht dich langsam, und immer langsamer, und irgendwann kannst du dich vor lauter Last auf dem Rücken beinahe überhaupt nicht mehr bewegen. Der Unterschied zu unserem Steinhaufen ist, dass man von dem Steinhaufen weggehen kann. Man kann so tun, als wäre der Steinhaufen nicht da, man kann ihn ausblenden und ignorieren, wie er weiter wächst. Aber bei einem Sack auf dem Rücken ist das anders. Den hat man immer bei sich. Jeden Tag, und jede Nacht. Egal wo man hingeht, egal was man tut, egal womit man sich abzulenken versucht. Ob man schläft, oder in der U-Bahn sitzt, oder sich mit Freunden trifft, der Sack ist immer bei dir. Er stört dich beim Schlafen, beim Sitzen, beim Essen, beim Lesen, er stört dich in der Badewanne, und beim Spaziergang im Park.
Der Sack hat aber auch etwas Gutes: Man gewöhnt sich an das Gewicht, dadurch, dass es so langsam zunimmt, kollabiert man nicht. Du hast im Lauf der Zeit Muskeln entwickelt, die dich dieses Gewicht aushalten lassen. Aber würdest du jemandem, der das Gewicht nicht gewohnt ist, das du jeden Tag überall mit dir rumschleppst, deinen Sack auf den Rücken packen - er würde augenblicklich umkippen. Wenn der Sack leichter wird, sind diese Muskeln immer noch da. Und das ist es, was du dir zunutze machen kannst. Es ist alles da, was du brauchst, um es zu schaffen. Du musst nur dafür sorgen, dass der verdammte Sack leerer wird. Doch was du bisher tust, ist dich dabei abzustrampeln, zu verhindern, dass er noch voller wird. Und deshalb fühlt es sich so an wie Hamsterrad. Der Sack wird trotzdem voller, denn negative Verstärker schwellen - wie gesagt - von alleine an. Der Sack wird also trotzdem noch voller, und du kannst wieder nicht mehr tun, als dafür zu sorgen, dass er nicht noch schneller noch voller wird. Und dabei machst du dich kaputt.
Die einzige Möglichkeit, den Sack zu leeren, ist, die Gewichte herauszunehmen, die das meiste Gewicht mitbringen. Das heißt: Altlasten abzutragen. Das sind nur auf den ersten Blick die "größten" alten Aufgaben. Noch viel entscheidender ist, wie lange die Mistdinger schon da drin liegen. Wie viel Zeit vergangen ist, um jeden Tag ein bisschen mehr Gewicht anhäufen zu können. Angenommen, du planst seit einer Woche, dein Bett zu beziehen. Bett beziehen = größere Aufgabe, bringt jeden Tag 50 Gramm zusätzliches Gewicht, dann bist du bei 350 Gramm. Schon ein ordentlicher Brocken. Und dann ist da "Besteckschublade sortieren", eine lächerliche Kleinigkeit, in ein, zwei Minuten erledigbar, bringt höchstens 1 Gramm am Tag, also nur ein Fünfzigstel. Aber du nimmst es dir schon seit sechs Jahren vor. Dann hast du wegen dieser lächerlichen Kleinigkeit über 2,5kg Gewicht angestaut - und zwar jedesmal, wenn du die Besteckschublade aufziehst, oder an ihr vorbeigehst, und dir ganz kurz der Gedanke durch den Kopf schießt: "Ach, Scheiße, das müsste ich ja auch längst mal machen...aber keine Zeit, nicht jetzt, später" - zack, neues Gewicht im Sack. Das heißt aber auch, dass du mit dieser 1-2 Minuten dauernden Erledigung über 2500 Gramm Gewicht aus deinem Rucksack loswerden kannst! Nehmen wir als anderes Beispiel Beas Telefonat. Drei Monate hat es sie belastet. Es war an Tag 1 genauso schwierig, wie an Tag 90. Nichts hat sich innerhalb dieses Zeitraums an der Herausforderung geändert, es hätte vor drei Monaten nur 60 Sekunden gedauert, und es hat auch drei Monate später nur 60 Sekunden gedauert. Der Unterschied ist, dass Bea 90 Tage lang eine Belastung empfunden hat, die immer größer und größer wurde. Hätte sie (jaja ich weiß, hätte-hätte-Fahrradkette, aber lasst mich das ausnahmsweise mal ausführen *g*) also hätte sie das Telefonat gleich erledigt, wären ihr 90 Tage Belastung erspart geblieben.
Das in Situationen zu entscheiden, in denen Alltagslasten zu Altlasten werden könnten, oder eben nicht, ist nicht so einfach. Es gibt ja Gründe, aufzuschieben. Aber bei Dingen, die schon längst Altlasten geworden sind, ist doch der hauptsächliche Grund, warum man sie nicht abzutragen beginnt, weil sie - Zeit kosten, die man nicht hat - Energie kosten, die man nicht hat - weil in der Zeit andere Dinge noch schlimmer in den Rückstand geraten
Wir tragen also vor allem deswegen keine Altlasten ab, weil wir befürchten, dass derweil neue Altlasten um uns herum wachsen könnten. Und das ist der grundverkehrte Gedanke, in dem man sich verfängt. Da wir jetzt wissen, dass das Gewicht der Altlasten primär von der Zeitdauer abhängt, wie lange und wie oft wir eine Sache schon aufgeschoben haben, dann wissen wir: Ein seit vierzehn Tagen aufgeschobenes nicht bezogenes Bett belastet uns nicht so sehr wie ein seit zehn Jahren aufgeschobener nicht ausgemisteter Gewürzschrank.
Auf genau solche Altlasten haben wir es abgesehen: Dinge, die in Minuten erledigt werden könnten, die aber wegen all der vielen anderen Lasten schon seit Monaten, Jahren oder Jahrzehnten aufgeschoben wurden. Kleine Reparaturarbeiten. Kartons, die aussortiert gehören. Klemmende Schubladen, kaputte Glühbirnen, uralte Kleidung, die den Kleiderschrank verstopft. Tischdecken, die kein Mensch mehr hernimmt, Bettwäsche, die niemand auflegen mag. Wolldecken mit Löchern und kaputte Schuhe, ausrangierte Elektrogeräte, und solche, die man ja doch nicht hernimmt, Konserven, die niemand isst, Geschirr, das keiner benutzt, Küchenmesser, die man nie hernimmt, weil andere besser schneiden oder besser in der Hand liegen. Reifen für Autos, die schon lange nicht mehr existieren, und Papierkram, in dem seit zwanzig Jahren niemand etwas nachgucken musste. Kruschpeldosen mit Schrauben, Nägeln und komischen Plastiknupsis, von denen man nicht weiß, wozu sie gehören, und alte Fernbedienungen und Blumenübertöpfe, Duschgel, das man nicht leiden kann und Schminkzeug, das einem zu schrill erscheint, eingetrocknete Nagellacke, löchrige Socken, labberige BHs, Geschirrhandtücher, die nicht richtig trocknen, Putzmittel, deren Geruch man nicht leiden kann, Gewürze, die man nicht benutzt, abgelaufene Spaghetti und Töpfe und Pfannen und Backutensilien, die man seit Jahren nicht in der Hand hatte. Ihr müsst nicht alles davon wegwerfen, aber ihr könnt vieles davon gezielt aufbrauchen. Dann riecht das Putzmittel eben 14 Tage lang nicht so gut, aber danach ist die Flasche leer und kann weg. Dann muss man eben mal zehn Minuten investieren und die Schubladenkanten mit einem Stück Seife bearbeiten, damit sie wieder flutschen. Dann muss man sich eben die Zeit nehmen und die alte Bettwäsche durchgucken, und aussortieren, was einem nicht mehr gefällt. Doch diese Investition von Zeit und Kraft ist eine, die sich lohnt - weil mit jeder dieser Aufgaben ein immenses Gewicht aus dem Buckelsack herauskommt UND weil durch das endgültige Erledigen von dieser Sache nicht mehr jeden Tag wieder ein Neues dazu kommt! Zehn Minuten Schublade reparieren können einem zwanzig Kilo Erleichterung bringen, wenn man das seit fünf Jahren vor sich hergeschoben hat. Dreißig Sekunden Glübirne austauschen können 5 Kilo ausmachen, wenn man seit Monaten Frust und Ärger verspürt, wenn man zum tausendsten Mal den Lichtschalter gedrückt hat, und das Licht geht immer noch nicht.
Der Aufwand bei diesen Altlasten ist sooo gering im Vergleich zu der Erleichterung, die man verspürt. Der Aufwand ist genauso gering, wie er vor drei Monaten, drei Jahren oder dreißig Jahren gewesen wäre, fünf Minuten, eine Minute, zehn, mal auch nur Sekunden - aber das Gewicht im Sack, das sich über diesen ewig langen Zeitraum vergrößert hat, ist unterschiedlich. Eine sofort getauschte kaputte Glühbirne macht nicht so happy, wie eine, die man erst nach drei Monaten austauscht, und eine, die man nach drei Monaten austauscht, macht nicht so happy wie eine, die man erst nach drei Jahren austauscht. Also sucht euch Altlasten, je älter, desto besser. Das heißt nicht: je größer desto besser! Arbeiten von Sekunden oder wenigen Minuten können eine genauso intensive Erleichterung bewirken, wenn man sie entsprechend lange aufgeschoben hat. Je "jünger" die Altlast, desto geringer der Effekt/die Erleichterung - und desto geringer auch der indirekte Nutzen, der Zusammenhang mit anderen Dingen. Je älter, desto leichter lassen sich Entscheidungen treffen: Behalten oder weg? Das ist bei allem so, bei Papierkram und vergammelter uralter Kleidung, bei alten Kalendern und alten Büchern, alten Brettspielen und alten Bastelsachen. Wenn man es denn sieht, und erkennt: Daran hat der Zahn der Zeit zu sehr genagt, das ist zu altmodisch, es stinkt, es ist verschimmelt, oder ich habe davon neuere, modernere, bessere Versionen, dann fällt das Trennen leichter. Wie immer gilt auch hier: Vielleicht behalten heißt sicher behalten.
Die ältesten Altlasten sind der Schlüssel, um den Sack auf eurem Buckel schlagartig leerer zu machen. Und je leerer der Sack, desto leichter fällt es euch, die "jüngeren" Altlasten in Angriff zu nehmen. Mehr noch: Dadurch, dass der Sack immer leichter wird, stört er euch auch nicht mehr so, bei allem, was ihr tut. Er lähmt euch nicht mehr so. Er nervt nicht, wenn ihr schlafen wollt, nervt nicht, wenn ihr in den Park geht, um ein wenig Sonne zu tanken, oder euch in die Küche setzt, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Jede abgetragene Altlast setzt Energie frei, aber nur, wenn ihr sie wirklich vollständig erledigen konntet. Ein Wäscheberg, der jeden Tag gleich hoch bleibt, setzt keine Energie frei. Wascht eure Maschine Wäsche - oder zwei - wie bisher, als Alltagslasten (damit es nicht mehr wird), und dann verschwendet keinen Gedanken mehr an den lähmenden Berg, sondern tut etwas anderes, das euch an anderer Stelle voranbringt. Nur dadurch leert ihr den Sack auf eurem Buckel - und das Beste daran ist: Die Muskeln bleiben. Und das bedeutet: Sobald der Sack leer ist - oder wenigstens um einige dutzend Kilo leichter - werdet ihr die Muskeln (also die Energie und die Nerven) haben, um die vorher unlösbaren Probleme auch endlich zu lösen. Druck, Angst und Scham werden euch nicht mehr lähmen, ihr könnt euch besser erholen, viele Dinge fallen euch leichter, sowohl körperlich, als auch technisch - und so könnt ihr die Kraft, die ihr bisher brauchtet, um uralte Altlasten mit euch herumzuschleppen, jetzt dazu verwenden, um "frischere" Altlasten abzutragen, und den kleinen Rückstand beim Putzen, Betten beziehen oder Staubwischen, der euch dabei entstand, als ihr Altlasten abgetragen habt, spielend aufzuholen.
Man muss ausprobieren. Vom nachdenken, lesen und schreiben alleine passiert nichts.