Es ist wichtig, zu lernen, sich wieder an Vereinbarungen zu halten, die man mit sich selbst getroffen hat.
Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, trifft man schon täglich solche Vereinbarungen mit sich selbst. Hunderte womöglich. Aber alle werden irgendwie gebrochen, entweder fängt man viel später an (oder gar nicht), oder man reduziert den Umfang, oder man vergrößert den Umfang, und hinterher gibt es kein richtiges Erfolgserlebnis.
Dein Gehirn vertraut dir nicht, wenn du ihm irgendeinen krummen Deal anbietest. Wenn du dich lockst: "Komm, das ist auf ne Stunde gewuppt!", und nachher sind es sechs, dann kommt sich dein Kopf verarscht vor. Wenn du sagst, um neun fang ich an, und um fünfzehn Uhr sitzt du immer noch auf deinem Hintern, weißt du am nächsten Tag bereits um 7:00, dass du um 9:00 sowieso nicht anfangen wirst. Wenn du dir sagst, dass du nur schnell die Küche aufräumen wirst, und dann polierst du bis nachts um drei das Spülbecken, weiß dein Gehirn beim nächsten Mal, dass du niemals "fix die Küche aufräumst", sondern dass immer eine selbstausbeuterische Nachtaktion folgen wird. Du drückst dich also nicht vor dem "fix aufräumen", sondern vor der unweigerlich folgenden Selbstausbeutung, vor dem Stress, der Anstrengung, vor körperlichem Schmerz, seelischer Belastung...dem ganzen Rattenschwanz.
Es geht also bei deinen neuen Vereinbarungen nicht um heute. Heute mag es kein Problem sein, 5 1/2 Stunden länger durchzuziehen, als vereinbart war. Es geht um morgen. Wenn du morgen wieder eine Vereinbarung mit dir treffen willst, bockt dein Kopf. Dein Gehirn sagt: "Nö. Du lügst. Meiner Erfahrung nach ist es IMMER mehr, als du vorher behauptest. Es dauert IMMER länger, als du mir einreden willst. Es ist IMMER anstrengender, als du mir weismachst." Und deshalb funktionieren deine Verhandlungen in der Gegenwart nicht. Dein Kopf hat gelernt, dass du lügst.
Dein Gehirn muss also zuerst lernen, dass das, was vereinbart wird, immer genau so eingehalten wird, wie es vereinbart war. Das kann es jetzt noch nicht gelernt haben, und das wird es auch nicht durch ein oder zweimal lernen, wo du neue, bessere Vereinbarungen mit dir triffst. Es braucht seine Zeit (nach den berühmten 14 Tagen solltest du klar wahrnehmen können, dass du inzwischen leichter bereit bist, Handlungen aufzunehmen).
Du könntest deine Vereinbarungen mit dir selbst mit denen vergleichen, die du mit einem Freund oder Arbeitskollegen trreffen würdest, der dich in der Vergangenheit oft enttäuscht, belogen oder versetzt hat. Es gelten nämlich genau dieselben Regeln im Umgang mit sich selbst, wie im Umgang mit anderen. Wenn du zu oft enttäuscht, ausgenutzt oder belogen wurdest, vertraust du demjenigen nicht mehr, und es muss erst über einen längeren Zeitraum alles tipptopp laufen, bevor man demjenigen zu glauben beginnt, dass er sich wirklich geändert hat. Genau so ist es auch mit dir selbst. Es dauert, bis du das Vertrauen in dich selbst wieder hergestellt hast. Und jeder Bruch einer Vereinbarung wirft dich wieder zurück, macht dich unglaubwürdig bzw vertrauensunwürdig.
Das wollen wir natürlich vermeiden.
Und alle Betroffenen meinen, dass sie das erreichen, indem sie es einfach entscheiden. "Ab jetzt schiebe ich nie wieder auf". Ab sofort bin ich ein besserer Mensch, ich erledige immer alles sofort, ich kümmere mich, ich miste die Garage aus, ich koche jeden Tag frisch, wasche jeden Tag drei Maschinen Wäsche, gehe die Steuererklärung im Januar an, und treibe Sport und höre auf zu rauchen, und ich esse nie wieder Schokolade - und das am besten alles gleichzeitig.
Das funktioniert nicht.
Für einzelne, bewundernswerte Individuen mag es funktionieren - meinen Glückwunsch an sie - aber das hier ist ein Guide für die Nicht-Wunderkinder, die sich die Besserer-Mensch-Werdung schon tausendmal vorgenommen haben, und immer wieder gescheitert sind. Aber es liegt nicht daran, dass ihr Charakterfehler habt, unfähig, dumm oder faul seid.
Es liegt ganz einfach daran, dass ihr schlechte Vereinbarungen mit euch selbst trefft.
Sie sind viel zu groß, viel zu kompliziert, viel zu einschneidend in euer Leben, sie sind von vornherein unerfüllbar, selbstausbeuterisch, schmerzhaft, belastend, stressig oder lohnen sich einfach nicht genug.
Das weiß ich, ohne euch zu kennen, oder zu wissen, worum es im Detail geht - weil ihr sonst nicht hier wärt. Wenn ihr euch an Vereinbarungen mit euch selbst halten könntet, wäre euch das alles nie so über den Kopf gewachsen, dass ihr online nach Hilfe gesucht hättet. Die Vereinbarungen waren also schon vor langer Zeit schlecht - denn sonst hättet ihr euch ja an sie gehalten - und seither ist es mit Sicherheit nicht einfacher geworden.
Die To-Do-Liste - der Haufen Steine - wird also immer größer und komplizierter, anstrengender, zeitraubender...während man sich zugleich immer kleiner und schwächer und überforderter, mut-, hilf- und kraftloser fühlt. Man war schon nicht in der Lage, seine Probleme zu lösen, als es einem noch besser ging, und es weniger Probleme waren. Wie, bitte, soll man sich da einfach entscheiden können, dass es ab jetzt anders wird?!
Du kannst nicht entscheiden, ab jetzt ein "besserer Mensch" zu werden - aber du kannst lernen, mit dir selbst Vereinbarungen zu treffen, die für dich erfüllbar sind.
Warum ist das wichtig? Weil es dein Selbstvertrauen stärkt. Und da muss ich jetzt wieder genauer erklären, denn wir neigen im allgemeinen Sprachgebrauch dazu, Wörter wie Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Selbstachtung oder Selbstsicherheit in einen Topf zu werfen, weil wir uns da offenbar nicht immer ganz sicher sind, was diese Wörter eigentlich bedeuten.
Selbstsicherheit heißt, dass sich jemand "seiner selbst sicher" ist. So jemand weiß, wer er ist, und was er kann. Eine selbstsichere Person merkt schnell, wenn andere sie in eine Rolle drängen wollen - und kann dann sagen: "Nein, das mach will ich nicht. Das passt nicht zu mir, so bin ich nicht." Oder "Das passt mir nicht in meine eigene Planung." und Ähnliches.
Jemand, der sich seiner selbst nicht sicher ist, der nimmt eher eine Position ein, die ihm von anderen aufs Auge gedrückt wird. Man weiß ja selbst nicht so genau, was am besten wäre, was gut für einen ist, wie die beste Vorgehensweise wäre, oder was man eigentlich will. Wenn dann jemand kommt, der einem den Eindruck vermittelt, dass er den vollen Durchblick hat, dann lässt man sich gern von dem instruieren. Mitunter sogar regelrecht erleichtert - auch wenn man sich hinterher oft ärgert, dass man sich schon wieder die Zügel hat aus der Hand nehmen lassen. Eine Person mit wenig Selbstsicherheit sagt oft, dass sie lernen wolle, härter zu werden, sich besser abzugrenzen, oder häufiger nein zu sagen. Doch auch das kann man nicht einfach entscheiden. Der Trick ist hier, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, bevor sich jemand anderer dazu berufen fühlt, sich einzumischen.
Selbstwertgefühl heißt, dass ich ein Gefühl dafür habe, dass ich etwas wert bin. Habe ich kein Selbstwertgefühl, dann fühle ich mich klein, unzulänglich, nutzlos...wertlos.
Selbstwertschätzung heißt, dass ich besagten Wert einschätze und mir zuweise. Ich kann eine Aufgabe, die ich erledigt habe, für wert- und nutzlos halten, oder ich kann sagen: "Das war eine gute und wichtige Leistung. Je mehr Selbstwertschätzung ich mir entgegen bringe, desto mehr steigt mein Gefühl dafür, was ich selbst wert bin. Dieses Gefühl steigert sich bis hin zur Gewissheit. Dann weiß ich genau, was ich wert bin - und dementsprechend, wo ich mich "unter meinem Wert verkauft" fühlen würde. Das ist dann Selbstsicherheit.
Selbstvertrauen bedeutet wiederum, dass man sich selbst vertrauen kann. Um das zu verstehen, betrachten wir einmal, wie Vertrauen zwischen zwei Personen entsteht: Je länger man sich kennt, klar. Aber es gibt auch Leute, die kennt man schon sehr lange, und würde ihnen trotzdem nicht vertrauen. Es geht darum, dass man immer wieder im Lauf seines Lebens mit anderen Menschen verschiedene Vereinbarungen trifft. Es hängt davon ab, ob sie sich an diese Vereinbarungen halten oder nicht, ob wir ihnen mehr vertrauen oder weniger. Wenn ich zum Beispiel eine Arbeitskollegin habe, der ich ein Buch leihe, und sie gibt es mir wie versprochen am nächsten Montag wieder, dann werde ich ihr ohne zögern wieder ein Buch leihen, wenn sie mich darum bittet. Wenn ich ihr hingegen wochenlang hinterher laufen muss, dann werde ich möglichst vermeiden, ihr noch einmal ein Buch zu leihen. Wenn eine Nachbarin schon öfters mal Pakete für mich angenommen hat, und sie mir immer sofort gegeben, und natürlich nie geöffnet hat, dann gehe ich davon aus, dass sie ein ehrlicher und zuverlässiger Mensch ist, den ich wohl auch darum bitten kann, meine Blumen auf der Terrasse zu gießen, wenn ich für ein paar Tage weg muss. Wenn sie auch das zuverlässig macht, gebe ich ihr vielleicht sogar mal meinen Ersatzschlüssel für den Notfall. Komme ich hingegen wieder, und alle Blumen sind vertrocknet, dann wird sie diesen Schlüssel vermutlich nicht bekommen. Auf demselben Weg bauen wir Vertrauen zu unseren Kindern auf (oder sollten es zumindest). Wir geben ihnen kleine Aufgaben - wie Tests - und wenn sie die bestehen, bringen wir ihnen mehr Vertrauen entgegen. Erst dürfen sie allein im Garten spielen, dann dürfen sie allein zu den Nachbarskindern, und später dürfen sie allein zu ihren Kumpels fahren, und auch länger dort bleiben als nur 1-2 Stunden.
Ganz genauso läuft es mit uns selbst: Wir formulieren Vereinbarungen mit uns selbst, setzen sie möglichst präzise um (ohne mogeln, ohne Betrug, ohne dass man der Erledigung hinterherlaufen muss), und das Vertrauen in uns selbst wächst mit jedem mal.
Das Selbstvertrauen wächst durch jede Vereinbarung, die man mit sich selbst getroffen und eingehalten hat.
Diese Vereinbarungen können über alles getroffen werden, was man auch mit anderen abmachen könnte - und darüber hinaus noch vieles mehr. Zum Beispiel: Wann stehe ich auf, wann gehe ich ins Bett? Wann esse ich was, was esse ich? Wann spüle ich mein Geschirr, gehe ich am Freitag ins Kino? Putze ich heute die Fenster? Räume ich die leere Klorolle ins Altpapier? Duschen, baden, Katzenwäsche oder gar nicht waschen? Schaffe ich das Leergut in den Supermarkt? Tausche ich die Glühbirne im Bad? Wann kümmere ich mich um die Weiterbildung? Schreibe ich die Email? Fahre ich heute Weihnachtsgeschenke kaufen? Backe ich morgen Kuchen? Lackiere ich mir heute die Nägel? Rufe ich nachher beim Arzt an und mache einen Termin aus? Wann sortiere ich die Fotokiste?
Bestimmt fällt dir auf: manche davon sind sehr einfach (Klorolle), manche sind dagegen schon ziemliche Klöpse (Weiterbildung). Ich habe sie jetzt extra mal ein bisschen durcheinandergeschmissen.
An dem Punkt, an dem du gerade bist, müssen wir davon ausgehen, dass es mit deinem Selbstvertrauen nicht sehr weit her ist. Das schlussfolgere ich aus dem Berg von Problemen, die dich hierher geführt haben. Niemand lässt sowas ewig liegen, ohne sich je Gedanken darüber zu machen. Nein, viel wahrscheinlicher ist, dass du mit dir selbst schon oft vereinbart hast, dass du jetzt (morgen, bald) damit anfängst - aber du hast es nicht getan, sondern stattdessen dem Berg beim wachsen zugesehen - während du dich immer hilfloser zu fühlen begannst. Das heißt, du hast versucht, Vereinbarungen mit dir selbst zu treffen, aber du hast dich nicht an sie gehalten. Wie wir aber bei Vereinbarungen zwischen zwei Menschen beobachten können, sinkt das Vertrauen in den anderen mit jeder gebrochenen Vereinbarung - bis auf Null.
Null ist jetzt erstmal nicht schlimm, denn bei jedem Menschen, den wir ganz neu kennenlernen, ist das Vertrauen ja auch erstmal null. Dann fangen wir klein an, und bauen langsam aus. Und genau so machen wir das jetzt hier auch. Es werden zuerst kleine Vereinbarungen getroffen, und sobald die funktionieren, können größere Vereinbarungen getroffen werden. Wenn du dir selbst vertraust, dass du A, B, C, D, E, F problemlos auf die Reihe bekommst, dann traust du dir sicher auch bald G zu.
Kleine Vereinbarungen sind vor allem deshalb so wichtig, weil sie erfüllbar - und fair - sein müssen. Aber dafür fehlt dir im Moment noch das Gespür, oder die Erfahrung. Wäre das vorhanden, dann hättest du ja gemerkt, dass mit deinen bisherigen Vereinbarungen was faul ist. Darum hast du es ja bisher meistens mit den zu großen Steinen versucht, oder deine Aufgaben als zu große Steine formuliert. Die Betroffenen neigen also dazu, ihre Aufgaben so zu formulieren, dass sie eigentlich gar nicht erfüllbar sind.
Erkennst du das Dilemma? Immer wieder werden Aufgaben so forumliert, dass sie gar nicht erfüllbar sind - und mit jeder nicht erfüllten Aufgabe stinkt das Selbstvertrauen. Je weniger man sich zutraut, desto kleiner und einfacher müssten die Aufgaben werden. Tatsächlich werden sie aber immer umfangreicher und komplizierter - weil die Berge immer größer und komplizierter werden.
Also, wenn Aufgaben jetzt nur noch so formuliert werden dürfen, dass sie SICHER erfüllt werden können, dann sollte man auf gar keinen Fall eine Vereinbarung mit sich darüber treffen, bis wann man seinen Gesamtberg abgetragen haben wird. Setze dir keine Frist, bis wann du deine Gesamtsituation unter Kontrolle haben willst.
Triff keine Entscheidungen, die monatelang oder gar "ab jetzt für immer" gelten sollen, denn die Gefahr, dass du sie irgendwann mal brechen wirst, ist so groß, dass du eigentlich schon vorher weißt, dass das sowieso nichts wird....also warum nicht gleich heute brechen... Wenn du eine Frist setzt, wirst du dich sehr wahrscheinlich verschätzen, und erst dem Irrglauben verfallen, dass du ja noch sehr viel Zeit hast. Dann wirst du wieder aufschieben bis auf den letzten Drücker, und dich schließlich wieder abhetzen, dir keine Zeit mehr für Pausen und Belohnungen gönnen - und dadurch wieder in dein altes Muster aus Antriebslosigkeit und Selbstausbeutung zurückfallen. Du hast möglicherweise das Gefühl, dass dir eine Fristsetzung dabei hilft, dich "zusammenzureißen". Verständlich - aber wir wollen gar nicht, dass du dich zwingen oder zusammenreißen musst. Wir wollen, dass du dein Leben lebst, und die Haushaltsarbeit einfach nur als Teil davon betrachtest, der zwar idealerweise immer weniger von deiner kostbaren Zeit und Kraft in Anspruch nimmt, aber niemals ganz auf null schrumpfen wird. Du kannst damit also eigentlich gar nicht fertig werden. Für den Anfang hoffen wir, dir beibringen zu können, dich von dieser Tatsache nicht entmutigen, nicht überfordern, stressen, hetzen oder sonstwie fertig machen zu lassen.
Zu einer vernünftigen Zeit anfangen, zu einer fairen Zeit enden, genügend Zeit und Energie haben, um dein Leben zu genießen, und am nächsten Tag zuverlässig wieder genauso weitermachen zu können. Jeden Tag ein bisschen - genau, wie du es dir schon so oft vorgenommen hast. Das wollen wir erreichen. Also triff kleine, einfache Vereinbarungen mit dir: Über den nächsten Handgriff, die nächste Minute, die nächsten fünf Minuten oder die nächste Viertelstunde. Trifft Vereinbarungen wie: "Ich trage jetzt zuerst den Müll raus, bevor ich mich vor den Fernseher setze" oder "Jetzt noch schnell die Küche aufräumen, und dann in Ruhe Zeitung lesen." oder "Erst Wäsche aufhängen, dann den Pudding essen" oder auch: "Ich nehme jetzt zwei Flaschen Leergut mit in die Küche, wenn ich da sowieso hingehen muss" (und das lohnt sich, weil man dann später nicht noch mal extra laufen muss)
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Außerdem solltest du über weitere Ankerpunkte nachdenken.
Versuche zum Beispiel, jeden Morgen zur selben Zeit aufzustehen, jeden Tag zur selben Zeit mit der Arbeit anzufangen, Pausen zu machen, zur selben Zeit zu essen, mit der Arbeit aufzuhören, und schließlich jeden Abend zur selben Zeit schlafen zu gehen. Wichtig ist, dass du Ankerpunkt-Vereinbarungen mit dir selbst nicht brichst, um dich nicht selbst auszubeuten. Wenn du um 10:00 festgelegt hast, dass du bis 12:00 durchhalten wirst, und dann willst du etwas essen, dann bescheiß dich nicht um dein Essen, sondern iss auch wirklich etwas, wenn es 12:00 ist. Dass du dann vielleicht doch noch nicht so viel Hunger hast, wie du dachtest, ist egal. Du legst heute ein Fundament für morgen. Wenn du jeden Tag um 12:00 eine Kleinigkeit isst, wird dein Körper schon bald daran gewöhnt sein, und dann beginnst du, um diese Uhrzeit Hunger zu haben. Wenn du dich jeden Abend um 22:00 ins Bett legst, magst du in den ersten Nächten glockenwach im Bett liegen und dir denken: "Du meine Güte, was mache ich hier gerade eigentlich?", aber wenn du es eine Weile durchgezogen hast, lernt dein Körper: "22:00 - Schlafenszeit" - und er wird müde, und er kann dann auch schlafen. Also lass dich nicht davon abhalten, dass es heute noch nicht funktioniert. Das kann es noch gar nicht. Aber es wird anfangen zu funktionieren, und es wird deine Lebensqualität steigern.
Das Wort "Ankerpunkt" ist für sich bereits eine kleine Metapher: Etwas, das fest, sicher und stabil in eurem Leben verläuft. Ihr sollt sagen können: "Ein normaler Tag in meinem Leben verläuft so, dass ich um X Uhr aufstehe, dann mache ich das, das, das, esse, dann das, das das, esse, dann Feierabend und um Uhrzeit XY gehe ich ins Bett."
Klingt langweilig?
Vielleicht. Aber wenn ihr keine Normalität kennt, in die ihr nach einem "Chaos-Ereignis" zurückkehren könntet, dann fühlt sich das Leben immer nach Chaos an. In einem solchen Leben fühlen sich schon kleine Ärgernisse an wie Katastrophen, und echte Katastrophen wie die Apokalypse.
Lege die Ankerpunkte nicht anhand dessen fest, wie du dich bisher kennst ("vor 02:00 kann ich sowieso nie schlafen" oder "vor 10:00 bin ich ungenießbar"), sondern anhand dessen, wie du gerne leben möchtest. Wie du gerne sein würdest. Wie dein Leben in deiner Wunschvorstellung aussehen sollte. Wenn du es eigentlich schlimm findest, dass du nicht zu normalen Zeiten schlafen kannst, wenn du dich selbst schrecklich findest, weil du bis am frühen Nachmittag im Bett liegst, dann ändere es. Dieses Verhalten ist nicht in Stein gemeißelt. Es ist eine Gewohnheit, aber du kannst deine Gewohnheiten ändern. Du bist nicht der Sklave deines Schlaf-Wach-Rhythmus. Du kannst die Kontrolle zurückerobern. Man muss nur zwei Dinge wissen:
1. Es IST änderbar. 2. Es dauert ein paar Tage, bis man sich umgewöhnt hat.
Damit du gar nicht erst auf die Idee kommst, dir Schlupflöcher zu suchen, und herauszufinden, wie weit du deinen Aufschiebe-Spielraum ausreizen kannst, gilt für den Anfang - für die ersten vierzehn Tage - die klare, einfache Regel: Halte dich an die Ankerpunkte des heutigen Tages. Wenn du merkst: So funktioniert es nicht, dann kannst du heute Abend für morgen deine Ankerpunkte anpassen - und das solltest du auch tun, denn du sollst ja deinen Handlungsspielraum erweitern. Aber morgen musst du dich an diese neu angepassten Ankerpunkte wieder minutiös halten. Erst abends kannst du sie wieder für den nächsten Tag anpassen. Du darfst nicht im Lauf des Tages plötzlich sagen: "Ich hab noch keinen Hunger, also esse ich erst um 14:00, ich bin noch nicht fertig/ich habe zu spät angefangen, also mache ich erst um 20:00 Feierabend, und ich bin noch nicht müde, deshalb gehe ich erst um Mitternacht ins Bett", wenn am Morgen noch etwas ganz anderes mit dir vereinbart war.
Später, in ein paar Monaten, wenn all das vollautomatisch abläuft, kannst du das alles wieder so machen, wie es dir gefällt. Aber bis dahin wirst du dir wünschenswerte, für dein Leben vorteilhafte Verhaltensweisen angewöhnt haben - zum Beispiel abends zu einer halbwegs normalen Zeit müde werden, und morgens zu einer halbwegs normalen Zeit ausgeschlafen sein. Dann könntest du auch mal ne Stunde überziehen, wenn es nötig ist - aber tatsächlich wird es viel eher so sein, dass du das gar nicht mehr willst. Dass du dir innendrin sagst: "Nix da, jetzt ist Feierabend! Ich hab für heute genug getan, jetzt will ich in Ruhe meinen Film gucken, Füße hoch. Morgen ist auch noch ein Tag."
Wenn du einen Ankerpunkt "verkacken" solltest, halte dich trotzdem so an die anderen, wie sie vereinbart waren. Wenn du dir versprochen hattest, um 8:00 anzufangen, aber du hast erst um 10:00 angefangen, dann mach trotzdem um 12:00 die vereinbarte Pause, und nicht erst um 14:00, und mach trotzdem um 18:00 Feierabend, und nicht erst um 20:00. Einmal die Vereinbarung zu brechen, ist kein Freibrief, sie dann für den Rest des Tages auch einfach über den Haufen schmeißen zu können. Vergiss nicht, dass dein Kopf dir momentan noch nicht vertraut - du baust ganz bestimmt kein Vertrauen auf, indem du alle anderen Vereinbarungen wie in einem Dominoeffekt ebenfalls brichst, nachdem du eine gebrochen hast.
Ich hoffe, dir ist der Sinn klar, warum das wahnsinnig wichtig ist: Wenn du Ankerpunkte als verhandelbar, oder als "flexible Richtlinie" betrachtest, fängst du ganz schnell (praktisch sofort) wieder an, in dein altes Muster zu verfallen: Aufschieben. Dann wird der Ankerpunkt immer weiter nach hinten verschoben. Zuerst das Aufstehen, dann der Arbeitsbeginn, die Pausen, die Essenszeiten und schließlich Feierabend und Bettgehzeit. Das würdest du tun, weil es das Wesen der Antriebsstörung ist, sowas zu tun. Betrachte es als Experiment, um herauszufinden, womit du gut zurechtkommst, und womit du dich wohlfühlst - oder zumindest BESSER fühlst als bisher. Betrachte die Unverhandelbarkeit deiner Ankerpunkte nicht als Bevormundung (wer oder was würde dich denn bevormunden, wenn du selbst diese Uhrzeiten festlegst?), sondern als eines deiner wertvollsten Hilfsmittel gegen die Antriebslosigkeit.
Wenn du berufstätig bist, dann gibt es schon einige Ankerpunkte in deinem Leben, zum Beispiel Arbeitsbeginn, Arbeitsende, Aufbruchszeit und Ankunftszeit. Manche Ankerpunkte kommen für jeden von uns durch nicht änderbare äußere Umstände. Ganz vorn mit dabei sind die Ladenöffnungszeiten. An denen können wir nichts verschieben. Alle Arten von Pflichtterminen also. Und - zumeist positiver behaftet als die lästigen Pflichttermine sind Sonn- und Feiertage, aber für manche auch Geburtstage, oder regelmäßige Verabredungen zu Aktivitäten (jeden Mittwoch um 18:00 Töpferkurs zum Beispiel).
Wenn du nicht berufstätig bist, und sehr isoliert lebst - wodurch du besonders wenige Ankerpunkte von außen hast, dann besteht umso mehr die Notwendigkeit für dich, dir eigene Ankerpunkte zu setzen.
Wann willst du immer spätestens anfangen, Handlungen aufzunehmen? Wann willst du immer etwas essen? Wie lange traust du dir zu, maximal am Stück zu arbeiten? Wann solltest du entsprechend immer Pausen machen? Gibt es Freizeitangebote, die du regelmäßig wahrnehmen willst, und die nur zu bestimmten Uhrzeiten machbar sind? Wann willst du spätestens aufstehen? Wieviele Stunden brauchst du, um ausreichend zu schlafen? Wie lange brauchst du, um einzuschlafen? Was willst du noch tun, bevor du einschläfst (z.B. noch eine halbe Stunde lesen oder spazieren gehen, bettfertig machen...) Wann wäre demnach der späteste Zeitpunkt, um ins Bett zu gehen?
Dadurch ermittelst du, wie viel Zeit dir überhaupt zur Verfügung steht, um noch etwas in deinem Haushalt leisten zu können. Sagen wir, alles in allem kommt dabei nicht mehr heraus als eine Stunde. Dann weißt du, dass du diese Stunde hast, und nicht mehr. Anhand dessen kannst du planen, was sich innerhalb dieser einen Stunde erledigen lässt. Dann weißt du, dass es nichts bringt, ein Projekt anzufangen, das vier bis acht Stunden dauern würde. Solche Projekte sind etwas für "Fortgeschrittene". Wir kommen auf sie zurück. Vielleicht stellst du auch fest, dass du am Tag etwa sechs Stunden "Nutzzeit" hättest - aber du bist nicht bereit, diese vollen sechs Stunden auch mit Arbeit in der Wohnung zu verbringen. Das ist okay. Nimm dir nur das vor, was du dir zutraust (z.B. eine halbe Stunde), und lege deinen Feierabend so, dass die 5,5 Stunden danach folgen. (Also leiste deine halbe Stunde zuerst und mach dann Feierabend, statt umgekehrt).
Du allein kannst entscheiden und festlegen, wann, was und wie viel du leisten möchtest (nicht "müsstest"!). Aber wenn du es entschieden und festgelegt hast, musst du dich auch daran halten.
Wenn du mit dir ausmachst, dass du spätestens um 9:00 anfangen willst, deinen Haushalt in Angriff zu nehmen, musst du dich daran halten. Wenn du entscheidest, um 12:00 Mittagspause zu machen, musst du dich daran halten. Wenn du entscheidest, jetzt eine Stunde zu arbeiten, und dann Kaffeepause zu machen, musst du dich daran halten.
Der Feierabend begrenzt das Maximum, bis zu dem du Dinge aufschieben kannst. Die anderen Ankerpunkte helfen dir dabei, rechtzeitig anzufangen, und deine Arbeit so umzugestalten, dass du jederzeit entspannt, satt, durstlos, schmerzfrei und konzentriert arbeiten kannst.
Wenn du unregelmäßige Tagesabläufe hast, versuche, durch zeitgleiche Ankerpunkte so viel Ähnlichkeit in deinen Tagesablauf zu bringen, wie möglich. Wenn du immer um 8:00 auf der Arbeit sein musst, und deshalb immer um 6:00 aufstehen musst, solltest du auch an den Tagen, an denen du nicht arbeiten gehst, um 6:00 aufstehen. Wenn du an den Tagen vor den Arbeitstagen immer um 22:00 ins Bett gehst, damit du genug Schlaf bekommst, solltest du auch an den Tagen um 22:00 ins Bett gehen, auf die keine Arbeitstage folgen. Dadurch fällt es dir an den Arbeitstagen leichter, um 6:00 aufzustehen, und an den Tagen vor den Arbeitstagen fällt es dir leichter, rechtzeitig ins Bett zu gehen.
Wenn du auf der Arbeit immer um 13:00 Mittagspause hast, solltest du auch an deinen freien Tagen um 13:00 Mittagspause machen. Wenn du an Arbeitstagen immer um 17:30 zu Hause bist, und dann normalerweise ca. 1 Stunde im Haushalt was tust, solltest du auch an den arbeitsfreien Tagen deinen Feierabend auf 18:30 festlegen.
Wenn es in deinem Leben nahezu keine Ankerpunkte gibt, lautet meine Empfehlung, deinen Tagesrhythmus so weit wie möglich an den Tagesrhythmus eines Normalos anzupassen. Versuche, dich schrittweise daran zu gewöhnen, morgens zu einer einigermaßen normalen Zeit aufzustehen (beginne zum Beispiel mit halb elf, statt elf, dann zehn, dann halb zehn...), zu frühstücken, mit deiner Arbeit zu beginnen, Mittagspause zu machen, noch ein bisschen was zu arbeiten, Kaffeepause zu machen, noch ein bisschen was zu arbeiten, Feierabend zu machen, zu Abend zu essen, und dann deine Freizeit zu genießen. Nimm dir sonntags frei, so wie es die Normalos tun. Mach keine Nachtschichten und keine Überstunden. Nimm dir die Pausen, die dir auch zustehen würden, wenn dein Haushaltschaos ein bezahlter Job wäre.
Nicht jedem Betroffenen schmeckt die Metapher, bei der man den Haushalts-Berg wie einen Job betrachtet, und sich selbst als Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Personalunion. Aber diese Metapher ist für die meisten einfacher nachzuvollziehen, als die alternativen Modelle (wie etwa das, sich in der Rolle des Kindes, und gleichzeitig in der der liebenden Eltern zu sehen). Viele Betroffene haben große Schwierigkeiten damit, von jetzt auf gleich irgendwie "liebevoll und fürsorglich" zu sich selbst zu sein, und viele haben auch eher sehr gegenteilige Erfahrungen mit den eigenen Eltern gemacht. Aber mit dem Konzept "korrekt zu sich selbst zu sein" können die meisten direkt etwas anfangen. Zu "liebevoll und fürsorglich" zu sich selbst soll es irgendwann hinführen. Die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Metapher ist eine Art "Krücke" auf dem Weg dorthin. Es ist ein Zwischenschritt, der meiner Erfahrung nach mehr Betroffenen dabei hilft, sich gedanklich mit diesem für sie ziemlich befremdlichen Konzept, "freundlich, liebevoll und fürsorglich zu sich selbst zu sein" anzufreunden. Damit passt es zu unserem Grundgedanken, wenn man sich nicht überwinden kann ("von null auf liebevoll"), dann eben einfach noch viel, viel kleiner anzufangen. Damit, zuerst mal allerwenigstens korrekt zu sich selbst zu sein.
Bei dem Arbeitnehmer/Arbeitgeber-Gedankenmodell gibt es gute Orientierungshilfen, wenn man einfach nur mal die Gesetzeslage anschaut. Es gibt gesetzliche Regelungen zum Arbeitnehmerschutz, und wenn ein Arbeitgeber diese Zeiten massiv missachtet, und von seinen Mitarbeitern verlangt, jeden Tag unzählige Überstunden zu machen, bis tief in die Nacht zu arbeiten, am Wochenende zu arbeiten, der keine Pausen gestattet, und einen nicht heimgehen lässt, wenn man seit Stunden Feierabend hätte, dann erkennt man in ihm den Ausbeuter und Sklaventreiber, der er ist - und sich selbst als seinen eigenen Chef zu sehen, der sich auf so - ja - regelrecht kriminelle Art und Weise selbst ausbeutet, öffnet vielen Betroffenen die Augen darüber, wie heftig sie mit sich selbst umgehen.
Der Rest...also das mit liebevoll und fürsorglich...das kommt schon noch. Das kommt, wenn man die Erfahrung gemacht hat, wie gut es tut, sich an Vereinbarungen mit sich selbst zu halten. Wenn man Erfolge zu sehen beginnt. Wenn man an sich selbst zu glauben beginnt. Wenn man sich zu vertrauen beginnt. Wenn man wieder Achtung vor sich selbst empfindet. Wenn man zu der Überzeugung gelangt ist, ein Recht darauf zu haben, sein Leben zu genießen. Wenn man spüren konnte, wie sehr man dabei aufblüht, wenn man sich nach langer Zeit etwas Gutes tut - und dieses auch einfach mal ohne schlechtes Gewissen annehmen kann.